Trotz Corona war es möglich, diese Veranstaltungsreihe zu planen und durchzuführen in Kooperation mit dem Haus der Kirche und mit fachlicher Unterstützung des Vereins Weltbewusst e.V.. Dieser bietet Biographiearbeit an für die dritte Generation Ost – die Generation, welche die Wende `89 und die Umbruchsjahre als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Wir haben Menschen dieser Generation eingeladen zu drei Podien, einer Lesung und einem Filmabend. Diese Veranstaltungen fanden im Café Dreikönig in der Dreikönigskirche statt. In einem zweiten Teil wurde das Projekt fortgeführt in Biographie-Workshops, zu denen sich erst „Wendekinder“ unter sich, anschließend auch die Kinder- und Elterngeneration austauschen konnten. Auch wenn zwei der insgesamt vier Workshops digital stattfinden mussten, ergab sich hier ein besonders intensiver Austausch in kleinen Gruppen. (Ein Präsenz-Workshop soll zu gegebener Zeit nachgeholt werden.) Was bleibt?
Zusammengefasst: Die Veranstaltungen und Workshops gaben Einblicke in sehr viele und verschiedene Biografien und Prägungen von „Wendekindern“ und „Wendeeltern“. Gerade der Austausch in großer Runde machte die Vielfalt sichtbar – DDR Bürger war nicht gleich DDR Bürger und die Umbruchs- und Nachwendezeit wurde in sehr großer Verschiedenheit erlebt. Das wirkt sich auch in großer Verschiedenheit auf das Heute aus. Viele Teilnehmende beschrieben das Nebeneinander Stehen so unterschiedlicher Erfahrungen als „bewusstseinserweiternd“. Die Generation der Wendekinder ist besonders davon geprägt, auf welche Weise ihre Eltern die Nachwendezeit durchlebt haben – mit welchen Gefühlen, Entbehrungen, Zugewinnen, Überforderungen, Niederlagen oder auch neuen Freiheiten. Es wurde bewusst, dass Eltern in dieser Zeit wenig für ihre Kinder da sein konnten, dass es auch etwas nachzuholen gibt an Austausch und vielleicht an neuem Kennenlernen. Es wurde deutlich, dass Erfahrungen wie die überstürzenden Ereignisse des Umbruchs, politische Fehler der Nachwendezeit, Abwertungserfahrungen Vieler, bspw. durch Massenarbeitslosigkeit immer noch der Aufarbeitung bedürfen. Die These „Wendekinder – Brückenbauer!“ wurde mehrfach untersucht. Es wurde klar: Wendekinder haben eine besondere Chance Brückenbauer zu werden – aber auch Menschen aus jeder anderen Generation können Brücken bauen! Vertiefte Einblicke gibt es weiter unten.
Kreative Dokumentationen der Podien im September im Haus der Kirche:
Was bleibt? Zur Vertiefung
Wir haben einen Schatz erkannt, den es noch weiter zu heben gilt. Viele Besucher*innen und Teilnehmende fühlten sich inspiriert, weiter ins Gespräch zu kommen und gemeinsam über Generationen hinweg (auch mit der Nachwendegeneration) die eigene Prägung durch die Erlebnisse des Umbruchs zu reflektieren und den Umgang damit bewusst zu gestalten. Indem wir Abstand nahmen vom bekannten Ost-West Vergleich und uns mit der eigenen Vergangenheit beschäftigten, zeigte sich die Wichtigkeit der inner-ostdeutschen Auseinandersetzung, der lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden war.
Für Menschen ist es allgemein wichtig, sich verorten zu können. Wir konnten Interesse wecken, einen anderen Blick auf die eigene Herkunft und Prägung zu bekommen. Die Generation der Wendekinder ist besonders davon geprägt, auf welche Weise ihre Eltern die Nachwendezeit durchlebt haben. Menschen der dritten Generation Ost war oft nicht bewusst, was die DDR mit ihnen und ihrem Leben zu tun hat.
Auch die Elterngeneration staunte, wie sehr die Umstände und die Zeit vor 30 Jahren die damaligen Kinder geprägt hat. Ja wie sehr auch Nachwendekinder von der DDR geprägt sind, ihre eigene Sicht auf Ostdeutschland haben, und sich ganz neu und in einem positiven Sinne als Ostdeutsche verorten.
In den Biografie-Workshops bot die Methode des „Zuhöraustausches“ einen geschützten Rahmen – das gegenseitige Zuhören ohne Wertung und in gleichen Zeitanteilen. Sie ermöglichte, dass Menschen sich öffnen konnten und auch Emotionen freilegten. Die Art der Auseinandersetzung brachte verschüttete und neue Themen hervor. Viele wollen „weitermachen“, ja auch der Bedarf an einer Art Stammtisch wurde geäußert.
Die Reihe wurde von der Frage begleitet, was das ostdeutsche Erbe ist, das wir mitbringen und wie wir mit diesem Erbe umgehen wollen. In manchen Familien ist es schwer über das Leben in der DDR zu sprechen. Teilnehmende unserer Workshops erleben Tabus dazu in ihren Familien.
Es wird auch ein kulturelles Erbe wahrgenommen, welches natürlich vielgestaltig und auch individuell ist. Unter den Teilnehmenden waren dazu folgende Stimmen zu hören:
z.B. „Ich wurde erzogen zum Gemeinschaftssinn, auch zum Verantwortung übernehmen gegenüber der Gemeinschaft“. Das empfanden viele Teilnehmende als Schatz, der heute nicht mehr automatisch kultiviert wird und den wir unbedingt an unsere Kinder weitergeben möchten. Ein Eindruck, der damit einherging war, „ich neige aber auch dazu, es allen recht machen zu wollen“ und nicht aus der Masse herausstechen zu wollen „ich wollte so sein wie alle“. „Ich bin erzogen zum unpolitisch sein, zur Anpassung, zur Tendenz, sich eher nicht zu positionieren“.
Sie haben gelernt, dass man ohne Auto und mit wenig Konsum und Müll leben kann. Heute scheinen wir uns entscheiden zu können, mit wievielen Autos und mit wieviel Konsum wir leben wollen. Mit Mangel umgehen können und Improvisationstalent wurden weitergegeben. Die meisten der Workshopteilnehmenden sind davon geprägt, dass Arbeit und Familie zusammen gehen muss, auch wenn es zulasten der Kinder geht.
Aktuell erleben wir ein Umdeuten von Werten aus der DDR. Schrebergärten wurden bis vor 10 Jahren verschenkt, heute gewinnen sie wieder an Wert – „urban gardening“ heißt jetzt das Konzept. Auch die Fähigkeiten zum Reparieren sind nun (wieder) gefragt, um nachhaltig leben zu können.
Eine neue Frage an sich selbst, die eine Person nicht von ihren Eltern gelernt hat – will sie stärken: Was tut mir und meinem Umfeld gut? Viele stellten fest, sie brauchen Räume für Austausch und zum Brücken bauen.
Wir Moderatorinnen haben auch gefragt, welchen Teil des Erbes wollen sie ausschlagen? z.B. wurde genannt die Haltung: „Es war schon immer so“. Die Kultur von „schüchtern“ , „authoritätshörig“ und „gleichgültig“ wollen sie nicht weitergeben. Es gab das Vorhaben, Scham abzulegen und darüber zu sprechen.
Wir haben gemerkt, Prägungen lassen sich nicht einfach ausschlagen. Wir müssen uns eher täglich neu zu unserem Erbe verhalten und uns damit auseinandersetzen. Wir können unsere Prägungen reflektieren und sie in einem neuen Licht anschauen, wir können verstehen, wie wir geworden sind. Durch genaues Hinsehen können wir auch verstehen, in welcher Situation die ostdeutsche Teilgesellschaft heute ist. Da ist es gefragt, Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen, auch dass einmal mehr als nur 4% ostsozialisierte Menschen in „Elitepositionen“ und mehr als 25% in ostdeutschen hohen Führungspositionen zu finden sind. (Quelle)
Letztendlich wurde der Umgang mit Andersartigkeit geschult an einer Stelle, an der es vielleicht nicht vermutet wurde.
Die These „Wendekinder – Brückenbauer!“ wurde mehrfach untersucht. Dadurch, dass sie in zwei verschiedenen politischen Systemen groß geworden sind, haben sie einen besonderen Erfahrungsschatz und zum Teil auch besondere Kompetenzen – mit Unsicherheit umzugehen und „Transformationskompetenz“ – zu verstehen, alles ist im Prozess und will gestaltet werden. In jedem Fall können sie eine Position gegenüber Entwicklungen in der DDR einnehmen, in der sie durch ihr Kindsein für nichts verantwortlich gemacht werden können und nicht in Kategorien Opfer/Täter/Angepasste eingeordnet werden können.
Am Ende des Projektes wird klar: Wendekinder haben vielleicht eine besonderen Chance Brückenbauer zu werden – aber auch Menschen aus jeder anderen Generation können Brücken bauen. 🙂
Annelie Möller