Beitragsbild: fotoArt by Thommy Weiss / pixelio.de
Lange lag der Pazifismus verstaubt in der Schublade. Heute ist er in aller Munde – aber was verstehen die verschiedenen Menschen eigentlich darunter? Pazifismus in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine ist heute sehr facettenreich zu „haben“.
„Pazifismus ist eine weltanschauliche Strömung, die jeden Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf Rüstung und militärische Ausbildung fordert“1.
Viele Menschen hierzulande bezeichnen sich als Pazifisten, weil sie selbst keine Waffen in die Hand nehmen würden. Das ist der individuelle Pazifismus.
Die Kreishandwerkerschaft Halle-Saalekreis fordert in einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz, er solle entsprechend seines Schwurs alle politischen Entscheidungen auf den Nutzen für das deutsche Volk prüfen. Die breite Mehrheit ihrer Kunden sei „nicht gewillt, für die Ukraine ihren schwer erarbeiteten Lebensstandard zu opfern.“2 Sie positionieren sich gegen Waffenlieferungen und gegen den Krieg. Plötzlich beziehen Menschen Stellung zu Krieg und Frieden, welche das sonst nie machen … Das entpuppt sich als egoistischer Pazifismus.
Es gibt auch den Pazifismus als politisches Konzept, einmal mit Menschen, die sagen, Notwehr gibt es auch beim Pazifismus, und das auch mit Gewalt. Und das gelte für manche Pazifisten auch für Staaten in der Selbstverteidigung3.
Es gibt das politische (pazifistische) Konzept der sozialen Verteidigung und des zivilen Widerstandes. Dabei wird auf direkte physische Gewalt gegenüber der angreifenden Partei verzichtet. Die Einnahme des Landes wird indirekt vermieden, indem auf allen gesellschaftlichen Ebenen nicht mit dem Besatzer kooperiert wird. Ziviler Ungehorsam, Streik, gewaltfreier Widerstand, Zugang zu Ressourcen begrenzen, interne Konflikte des Angreifers verschärfen, offene oder verdeckte Nichtkooperation mit dem Besatzer gehören dazu. „Ohne Gehorsam ist der Herrscher machtlos. Selbst die Schwächsten haben also einen Weg zu kämpfen, solange ihre Arbeitskraft, ihr Wissen oder nur ihre Passivität für das System erforderlich sind“4. Dies wird aktuell für die Ukraine vom Bund für Soziale Verteidigung nicht empfohlen5.
In Deutschland gibt es allerdings eine Kampagne, die die hiesige Bevölkerung auf eine mögliche Besatzung mit gewaltfreien Mitteln vorbereiten möchte6.
Das Dilemma, dem wir mit dem Ukraine-Krieg ausgesetzt sind, ist mir eindrücklich – wir werden schuldig, wie auch immer wir uns zu den Waffenlieferungen verhalten.
Die Forderung nach Friedensverhandlungen finde ich richtig, aber ich frage mich, von wem außer Putin soll es gefordert werden? Was bringt es, dies immer wieder in Demonstrationen einzufordern? Wird diese Forderung Einfluss auf Putin haben, wenn er schon die Verurteilung vom Internationalen Strafgerichtshof anscheinend ignoriert?
Bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gab es zahlreiche diplomatische Bemühungen auch von deutscher Seite, Putin möge keinen Krieg in Europa beginnen bzw. den Konflikt mit der Ukraine nicht ausweiten.
Die Forderung nach Verhandlungen an die Ukraine zu der Bereitschaft, Gebiete aufzugeben, klingt schnell nach einer Täter-Opfer-Umkehr.
Eine Stimme, die mir noch einmal eine neue Seite des Pazifismus zeigte, ist der Friedensethiker und Professor für Philosophie an der HU Berlin, Olaf Müller7. Seiner Ansicht nach unterliegt die Verteidigung bei einem verbrecherischen Angriffskrieg ebenso der Verantwortungsethik – „kein koste es, was es wolle“. Alle Handlungen seien Abwägung von den Folgen von Unterlassen und Tun. Eine Verteidigung, die schnell zu einem Erfolg führt, und das Grauen des Krieges beendet, sei richtig.
Er fragt, ist nicht das, was wir jetzt sehen, eine überzogene Form der Verteidigung, die in einen sehr sehr lange dauernden Krieg hineinführt? Mit Blick auf die Opferzahlen und die drastisch gestiegene Gefahr eines Atomkrieges könne man sich fragen, ob das eine wohl erwogene Entscheidung war, den Krieg zu unterstützen.
Mit dieser Position fühle er sich dennoch unwohl und schuldig den Ukrainern gegenüber. Ein Akzeptieren der russischen Besatzung hätte die Vernichtung des ukrainischen Staates und der Menschenrechte in der Region zur Folge gehabt.
Er beschreibt Pazifisten als Menschen, die länger und hartnäckiger auf die friedliche Option setzten. Pazifisten sorgten sich früher als andere vor Eskalationen. Sie gingen vorsichtiger durch die Welt.
Damit ist für mich auch der Widerspruch verständlicher, warum Militärangehörige die Wahrscheinlichkeit des Atomkriegs viel geringer einschätzen als Stimmen der Friedensbewegung z.B. von Church and Peace.
Pazifisten seien auch vorsichtiger, heutige Kriege mit Nazi-Deutschland zu vergleichen. Auch Olaf Müller unterscheidet: Die „Barbarei von Nazi-Deutschland“ 1939-1945 über Europa sei eine andere Dimension als die von Russland auf die Ukraine.
Ihn beunruhige, dass in diesem Streit um den richtigen Weg nur sehr wenige Menschen die Zwischentöne und Selbstzweifel artikulierten. Jede Position mache sich schuldig.
Gegen welche kriegerischen Handlungen sind Pazifisten nun? Da helfe kein Schwarz-Weiss-Denken. Da seien die Grautöne wichtig – je kriegerischer eine Handlungsoption ist, desto moralisch zweifelhafter ist sie. Man müsse genau die Folgen der Handlungsoptionen abschätzen.
Ich gehe davon aus, dass schon abgewogen wurde, welche Folgen Waffenlieferungen z.B. aus Deutschland haben werden. Die Folgen wurden und werden jedoch unterschiedlich bewertet. Geht es um die reinen Opferzahlen? Oder gibt die Verteidigung des Völkerrechts und des Selbstverteidigungsrechts und der Menschenrechte den Ausschlag?
Olaf Müller ist ein pragmatischer Pazifist: „Es gibt generell Situationen, wo auf kriegerische Handlung zu verzichten so unendliches Leid nach sich zieht, dass es inakzeptabel ist, auf dem Pazifismus zu verharren.“8
Das sei der Fall beim Krieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland gewesen. „Namhafte Pazifisten haben in dieser Zeit ihrem Pazifismus eine Grenze gesetzt. Es gibt einen Punkt, wo es verrückt wird, auf die friedliche Option zu setzen.“9
Die Folgenabschätzung „Wenn – dann“ lasse sich allerdings nicht objektiv wertfrei einschätzen.
Wir können nicht in die Zukunft blicken und kommen bei der Folgenabschätzung mit wissenschaftlichen Mitteln nur bedingt weiter. „In dem Moment wo wir auf die Wirklichkeit blicken und verschiedene Szenarien eines Konfliktes in den Blick nehmen, importieren wir bereits unsere Werthaltungen hinein. Ob man Pazifist ist oder nicht, ist nicht am Moralkriterium Verantwortungsethik festzumachen, sondern wie Menschen die Wirklichkeit einschätzen“10.
Pazifisten blickten mit einer Vorsicht auf Konflikte, sorgten sich früher als andere um unkontrollierte Eskalationen und kommen zu anderen Einschätzungen des Wenn-Dann.
M.E. plädiert Olaf Müller dafür, den Weg des geringeren Leids zu wählen, nicht nur kurz- , sondern mittel- und langfristig. Gleichzeitig kann es keine Sicherheit geben, die richtige Wahl getroffen zu haben.
Das Ganze wird noch komplexer, wenn man die unterschiedlichen Kontexte differenziert betrachtet. Was ist das geringste Übel für die Ukrainer? Gibt es Unterschiede zwischen Ostukraine und Westukraine? Was ist das geringste Übel für Europa insgesamt? Für die Welt?
Es ist wichtig, die Interessen und Abwägungsentscheidungen transparent zu machen. Gerade weil wir erleben, dass auch verdeckte Interessen verfolgt werden.
Das Dilemma bleibt. Der Sack lässt sich nicht zubinden.
Annelie Möller, Friedensreferentin im ÖIZ
Anmerkungen:
1) https://de.wikipedia.org/wiki/Pazifismus
2) https://www.nordthueringen.de/_daten/mm_objekte/2022/08/644128_0819_15552381.pdf
3) Sächsische Zeitung, 08.04.2023, S. 3
4) Benjamin Isaak-Krauß, Friedensforscher und Mennoniten-Pastor in Frankfurt a.M.
http://www.bennisblog.de/gewaltfrei-gegen-besatzung/
5) Telefonat mit der Geschäftsführerin C. Schweitzer
6) https://wehrhaftohnewaffen.de
7) https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=dira_DLF_d2ab1eaf
8) ebd.
9) ebd.
10) ebd.