Zwischen Ukraine und Syrien… wo bleibt der Westen?
Muawia Dafir absolvierte sein Maschinenbaustudium in Syrien und studierte Master in Dresden, wo er seit 2012 lebt. Derzeit ist er Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung. 2015 war er Referent in ÖIZ-Veranstaltungen zu Syrien. Hier schreibt er uns und seinen Freund:innen seine Gedanken zum Krieg in der Ukraine.
Es sind Gedanken, die nahe gehen und gleichzeitig europäische Selbstgewissheiten in Frage stellen.
Am 27. Februar 2022 schreibt Muawia Dafir diese Mail:
Liebe Freund*innen und Bekannte,
das russische Regime unter Putin möchte sich als Weltmacht seit Jahren behaupten… ein „berechtigter“ Wunsch in einer Welt, wo nur die Mächtigen mit-reden dürfen und über die Schicksale anderer Völker entscheiden. Das war ein Alleinstellungsmerkmal der USA. Nun hätten Russland, China, Indien, Iran und die Türkei… etc. auch gerne Mitrederecht und arbeiten daran, es auch zu bekommen und nutzen wie die USA jegliches Mittel nach dem Motto „Der Zweck rechtfertigt die Mittel“.
Russland hat in den letzten vielen Jahren das mörderische Regime Assads in Syrien grenzenlos unterstützt und neue Waffen an den Kindern, Frauen und Männern des Landes ausprobiert, getestet und sogar verbessert. Der Westen schaute nur zu und drückte manchmal auch noch die Augen zu (die Ohren auch, um keinen Hilfeschrei zu hören). Nun kommen diese „Hochpräzisionswaffen“ in der Ukraine zum Einsatz und treffen u. a. Dörfer und zivile Gebäude.
In Syrien hat sich der Westen wenig bis kaum eingemischt – unter dem Vorwand, „Terroristen“ nicht unterstützen zu wollen und die „Stabilität“ des Nahen Ostens nicht zu gefährden. Es ist mehr als 10 Jahre her, Assad ist noch immer an der Macht und begeht seine Verbrechen weiter. Russland behauptet sich jetzt woanders und der Waffenverkauf (auch von Deutschland aus) gedeiht weiter. Nun mischt sich der Westen in der Ukraine wieder mal, und wie erwartet, wenig ein. Grund dieses Mal: „Gas aus Russland“… Wir hierzulande stellen unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen und warmen Wohnungen über das Leben vieler Menschen in der Ukraine. Wie arrogant ist das bitte?
Die Lösung ist nicht nur, Russland mit Sanktionen zu bestrafen. Dafür hat Russland sich gut vorbereitet. Ich maße mir auch nicht an zu sagen, die Lösung wäre, auf der Seite der Ukraine zu stehen und das Unterstützungsversprechen einzuhalten und somit vielleicht einen 3. Weltkrieg zu starten, denn im Krieg sind alle Verlierer… Aber eines weiß ich sicher: Interessenbasierte Politik gewinnt vielleicht den Moment, aber verliert die Geschichte. Der Westen betreibt seit Jahren werte-lose Politik und versucht nur noch, seinen Wohlstand zu beschützen – egal mit welchen Kosten und auch wenn es heißt, das Leiden von anderen Menschen in Kauf zu nehmen… Hauptsache „uns geht es gut“. Europa hat viele Kriege erlebt und sollte es am besten wissen, dass Wohlstand „kommt und geht“ und die Geschichte kein Schweigen verzeiht.
Deutschland soll kein Gas von Russland importieren und damit neue Abhängigkeiten schaffen… Deutschland soll den Konsum und das Wirtschaftssystem anders gestalten… Wir brauchen keine Elektroautos um die Umwelt zu retten, sondern bessere und nachhaltige Infrastruktur für öffentliche Verkehrsmittel in Städten und Umgebung. Die Mentalität „Mehr. Schneller. Höher.“ soll ein Ende finden. Dies lässt sich mit wertebasierter Politik, Menschenrechten und Nachhaltigkeit nicht vereinbaren….
Bitte bleibt gesund, wach und mischt euch ein…
Muawia Dafir
am 27.2.2022
Am 17.3.22 schreibt Muawia einen Nachtrag zu seinem Text von vorher. Hier ein Auszug:
Liebe Freund*innen und Bekannte…
es hat etwas gedauert, diese E-mail zu schreiben. Aber der Inhalt davon beschäftigt mich sehr den letzten Tagen… Daher ist hier ein Nachtrag zu meinem Text von vorher.
Trotz der Umstände freue ich mich sehr, dass Deutschland u.a. sich positiv gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine zeigt… Ich finde es beeindruckend, dass es z.B. in allen Bahnhöfen Infostände und viele Anzeigen in ukrainisch/russischer Sprache gibt… Persönlichkeiten der Bundesregierung zeigen „Haltung“… Waffen werden geliefert… etc. Ich muss sagen, vieles finde ich großartig und ich freue mich sehr, diese Haltung zu sehen… Ich muss aber auch ehrlich zugeben, dass es viele Fragen in meinem Kopf hervorruft… Fragen der Art: „Warum?“
Warum hat niemand etwas unternommen gegen die russischen Angriffe in Syrien… die saudisch/iranischen im Jemen… die israelischen in Gaza… die USA-Offensive gegen den Irak…?
Warum gibt es nicht das selbe Verhalten der Institutionen gegenüber anderen Menschen aus Syrien, Afghanistan, Jemen… etc. (die Liste ist lang)?
Warum ist die Flagge der Ukraine in vielen Orten der Stadt zu sehen… aber keine der anderen Länder waren zu sehen, die am leiden waren und sind…?
Es gibt viele mögliche diplomatische Antworten auf solchen Fragen. Was aber die Medien sagten und verrieten, machte mich etwas nachdenklich. Zusammenfassend war es: „Sie sind weiß, haben helle Augen und blonde Haare… die sind zivilisiert… sie sind Europäerinnen… die sind Christen“.
Ich fragte mich in dem Moment, bluten nicht alle Menschen „rot“?… Und wenn Kinder weinen, sind nicht deren Tränen wie kleine Perlen auf den Wangen – egal, welche Religion oder Hautfarbe sie haben? Das haben u.a. Menschen in belagerten Gebieten Syriens verstanden und solidarisieren sich mit der Ukraine (siehe Coverbild).
Ich wünsche mir, Euch und unseren Kindern – den Erwachsenen der Zukunft, dass die Antwort auf diese Fragen „JA“ wäre und dass die gute koordinierte Reaktion der Institutionen auf die Geflüchteten jetzt auf den gesammelten Erfahrungen mit den Geflüchteten aus 2015 beruht… und dass es keine Doppelmoral im Umgang mit Geflüchteten und Menschen anderer Hautfarbe gibt.
Bleibt aktiv und mischt euch ein, soweit ihr könnt.
Muawia Dafir